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Wo fängt der Nationalsozialistische Untergrund/NSU an - wo hört der Staat auf?

Im Frühjahr 2013 wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere vier Neonazis wegen Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach § 129a und Beihilfe zu Mord eröffnet. Laut Anklageschrift bestand der Nationalsozialistische Untergrund/NSU aus drei Mitgliedern, das letzte lebende Mitglied soll Beate Zschäpe sein. Ebenso will die Generalbundesanwaltschaft keine Belege dafür gefunden haben, dass es »Verflechtungen des NSU mit anderen Gruppierungen« (FAZ vom 8.11.2012) gab.

Damit will die Generalbundesanwaltschaft etwas justiziabel machen, was seit Monaten als Legende aufgebaut und kolportiert wurde: Der Nationalsozialistische Untergrund/NSU ist ›das Zwickauer Terrortrio‹, die einzig Überlebende Beate Zschäpe. Mit dem Prozess gegen sie soll ein Schlussstrich unter die neonazistische Mordserie gezogen werden.

Was kann ein solcher Prozess aufklären? Was soll mit diesem Prozess auf jeden Fall verhindert werden? Wem soll auf jeden Fall nicht der Prozess gemacht werden?

Um zu verstehen, auf welche Fakten sich meine politische Einschätzung stützt, möchte ich zuerst drei zentrale Behauptungen widerlegen, die mit unterschiedlichem Gewicht als Erklärung dafür dienen sollen, dass 13 Jahre lang eine neonazistische Terrorgruppe im Untergrund agieren konnte, dass die neun Morde zwischen 2000 und 2007, die dem NSU zugeordnet werden, nicht verhindert werden konnten.

1. Behauptung

Bis hin zur Generalbundesanwaltschaft hält sich die Legende, dass die bisher namentlich als NSU-Mitglieder genannten Neonazis abtauchen konnten, ohne dass es eine heiße Spur gegeben hätte, sie festzunehmen.
Lange vor Einrichtung der Untersuchungsausschüsse gelangten unzählige Beweise und Vorgänge an die Öffentlichkeit, die das Gegenteil belegen. Ganz offensichtlich gab es auch innerhalb der Verfolgungsbehörden ein dissidentes Interesse daran, diese Legende zu zerstören.

Legt man alle Fakten und Hinweise zusammen, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Die abgetauchten THS-Mitglieder befanden sich vom ersten Tag ihres Abtauchens im Aquarium der Verfolgungsbehörden: Die Telefon- und Adressenliste mit über 35 namhaften Neonazis, die 1998 in der Jenaer Garage gefunden wurden, bildete das komplette Netzwerk des Nationalsozialistischen Untergrundes ab.

Mit mindestens zwei Neonazi-Kader und V-Männern, Thomas Starke und Thomas Richter saßen die Verfolgungsbehörden am Küchentisch bzw. an der Bettkante der abgetauchten Neonazis.
Aufgrund unzähliger Abhörmaßnahmen, Observationen und V-Mann-Berichten waren die Verfolgungsbehörden über alle Details der Planung und Absichten informiert: Sie wussten, dass sie sich bewaffnen, sie wussten, dass sie sich falsche Papiere besorgen, sie wussten, dass man für sie eine Wohnung organsierte. Sie wussten, dass man offen in der Neonazi-Szene Geld sammelte, bis sie durch Banküberfälle ihre Finanzierung selbst in die Hand nahmen.

In jedem anderen Fall hätte dieses behördliche Wissen vollkommen ausgereicht, ein Verfahren wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (nach § 129a) einzuleiten. Genau dies wurde bis hin zu Generalbundesanwaltschaft abgelehnt.

All dieses Wissen beschreibt keinen hoch konspirativen Untergrund, der für die Verfolgungsbehörden undurchdringbar war. Das Gegenteil ist der Fall: Man ›führte‹ sie in einen Untergrund, der so dunkel war, wie eine hell erleuchtete Unterführung.

Die zahlreichen Fakten, die an die Öffentlichkeit gespielt wurden, belegen zugleich, dass es zahlreiche Möglichkeiten gab, die abgetauchten THS-Mitglieder festzunehmen. Entweder wurden ›Zugriffe‹ vorsätzlich unterlassen oder die jeweiligen obersten Dienstherren verhinderten dies.

2. Behauptung

»Nach allem, was passiert ist, kann ich mit den bisherigen Strukturen sehr gut leben.« (Auf offener Bühne, FR vom 20.7.2012)

Mit diesem Satz verabschiedete sich der Präsident des Bundeskriminalamtes/BKA Jörg Ziercke in den vorzeitigen Ruhestand.

Der Umstand, dass sich 13 Jahre lang ungestört Neonazis im Untergrund bewegen konnten, dass die Mordserie nicht verhindert werden konnte, wird mit Pannen, Behördenwirrwar und Kompetenzstreitigkeiten entschuldigt und erklärt. Das ist so glaubhaft wie die Begründung, man habe die Festnahme nicht vornehmen können, weil man keine Handschellen dabei hatte.

Die Erklärung ist keine Entschuldigung, sondern eine vorsätzliche Verschleierung der tatsächlichen Ursachen. Unbestritten gibt es verschiedene Behörden, mit sich überschneidenden Aufgabengebieten und unterschiedlichen Kompetenzen. Und in der Tat führen differierende Einschätzungen auch zu Streitigkeiten. Doch in einem solchen Fall entscheidet nicht das Los und in aller Regel auch nicht die Selbstherrlichkeit einer Behörde, schon gar nicht im Laufe von über 13 Jahren. Die staatlichen Verfolgungsorgane, die verschiedenen Dienstebenen sind nicht nach dem Lotterieprinzip aufgebaut, sondern bekanntlich streng hierarchisch geordnet.

Man lüftet also kein Geheimnis, wenn man festhält, dass in einem solchen ›Zielkonflikt‹ zwischen Behörden das jeweilige Innenministerium das letzte Wort hat.

Wenn also geplante Zugriffe in letzter Minute abgebrochen, wenn mögliche Festnahmen verhindert werden, wenn Konflikte zwischen Polizei und Verfassungsschutz entschieden werden müssen, dann ist als oberster Dienstherr der Innenminister für diese Entscheidungen verantwortlich.

Dass es diese Zielkonflikte gab, dass es nicht immer reibungslos funktioniert, wenn der Verfassungsschutz Straftaten deckt und ermöglicht und die Polizei - ahnungslos oder auch nicht - diese verhindern will, ist unbestritten. Doch wer sich in einem solchen Fall durchsetzt, ist nicht dem Zufall überlassen, sondern auch im Fall des NSU eindeutig dokumentiert:

»Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.

Dieses Vorgehen führte seinerzeit zu Krisengesprächen zwischen den Staatssekretären der Landesministerien für Justiz und Inneres sowie zwischen dem Thüringer Generalstaatsanwalt und dem LfV-Präsidenten. Große Folgen hatte das jedoch nicht: Im Jahr 2003 wurde das Ermittlungsverfahren gegen das gesuchte Trio eingestellt – und damit auch die Fahndung beendet.« (FR vom 8.12.2011)

Der Schlüssel für die fortgesetzte Untätigkeit, der Schlüssel für den Umstand, dass Mitglieder der NSU über sieben Jahre morden konnten, liegt also nicht im Dunklen, sondern in den jeweiligen Innenministerien.

3. Behauptung

In der Ermittlungsarbeit zur Aufklärung der Mordserie habe man einen rassistischen Hintergrund nicht ausgeschlossen, man habe diese Spur vielmehr aufgrund fehlender Indizien und Beweise fallen gelassen. So lauten die ständigen Beteuerungen für den Umstand, dass in allen Mordfällen fieberhaft nach einem kriminellen Hintergrund im ausländischen Milieu gefahndet wurde - ausnahmslos erfolglos. Dass dies schon damals nicht stimmte, ist bitter und schmerzhaft genug. Dass diese Version auch heute noch aufrecht erhalten wird, unterstreicht eine Kontinuität, deren wesentlichstes Merkmal fortgesetzte Verschleierung ist.
Ich möchte diese Behauptung am Beispiel des Terroranschlages in Köln 2004 erklären.

Am 9. Juli 2004 explodierte eine Nagelbombe in einer Geschäftsstraße in Köln, in der sich viele türkische Kleinläden, Restaurants und Geschäfte befinden. Die Bombe, mit 5,5 Kilo Schwarzpulver und ca. 800 Nägeln gefüllt, wurde auf einer viel frequentierten Straße deponiert, also mit dem Ziel, wahllos möglichst viele zu ermorden bzw. schwer zu verletzten. Um 15.56 Uhr wurde die Bombe gezündet, über 22 Personen wurden verletzt, viele davon schwer.

Obgleich es Aufgabe der Polizei ist, in alle Richtungen zu ermitteln, wurde genau dies von Anfang an unterbunden: »Der Begriff ›Terroristischer Anschlag‹ wurde noch am Tattag aus einem Rundschreiben der Polizei wieder rausgestrichen.« (SZ vom 22.11.2012)

Auch hier handelt es sich nicht um eine Fehleistung eines einzelnen Beamten, sondern um eine Anweisung, die von ganz oben kam. Dem WDR-Magazin ›Westpol‹ liegen Dokumente aus dem Lagezentrum des Innenministeriums vor, die belegen, dass die falsche Fährte in Richtung organisiertes Verbrechen vom SPD-geführten Innenministerium gelegt wurde, obwohl Polizei und Verfassungsschutz auf den neonazistischen Hintergrund hinweisen.

Am darauf folgenden Tag unterstrich der damalige SPD-Innenminister Otto Schily (SPD) diese Richtungsvorgabe: »Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.« (Quelle: http://www1.wdr.de/themen/archiv/sp_amrechtenrand/terrorvonrechts/keupst...)

Mit dieser Stellungnahme, die nichts mit Ermittlungstätigkeiten, sondern erwünschten Ergebnissen zu tun hat, gab der Innenminister den höchst möglichsten Segen dazu, auch diesen Terroranschlag ins ›kriminelle Milieu‹ abzuschieben.

Um diese vorsätzlich falsche Ermittlungsrichtung durchzuboxen, schreckten die Verfolgungsbehörden auch vor Drohungen und Einschüchterungen nicht zurück. Wenige Tage nach dem Bombenanschlag bekam auch der geschädigte Ladenbesitzer Arif Sagdic Besuch von Kriminalbeamten. Diesen gegenüber äußerte er klar und deutlich den Verdacht, dass es sich um einen Terroranschlag von Neonazis handele. Daraufhin bekam er von den Polizisten die Antwort: »›Schweig darüber. Kein Wort zu niemanden‹. Sie haben mir richtig Angst gemacht.« (WDR-Magazin ›Westpol‹ vom 25.11.2012)

Von dieser selbst gelegten Spur ließen sich alle daran beteiligten Ermittlungsbehörden auch dann nicht abbringen, als ein paar Monate nach dem Anschlag ein Flugblatt verteilt wurde, das positiv Bezug darauf nahm: »Es war mehr als ein Bombenanschlag, es war ein Zeichen von Protest…« Das Flugblatt endete mit der Aufforderung: »Deutsche wehrt euch!!!!«

Die Begründung, warum auch dieses Flugblatt nicht zum Anlass genommen wurde, die Ermittlungsrichtung zu ändern, erklärt ein Kölner Generalstaatsanwalt so:

»Ausländerfeindlichkeit sei dem Schreiben ›nicht entnommen worden‹, schreibt der Kölner Generalstaatsanwalt in internen Akten, vielmehr sei es als Aufforderung verstanden worden, sich ›gegen den Fremdenhass zu wehren‹.« (taz vom 10.5.2012)

Wie unverschämt gut alle Dienstwege eingehalten wurden, alle Behörden darin involviert waren, niemand ausscherte, belegt der letzte Akt der vorsätzlichen Vertuschung: Auch die Generalbundesanwaltschaft lehnte es ab, die Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag an sich zu ziehen. Eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland, ein schweres Verbrechen, das eine neonazistische Terroraktion nahe legt, wollte sie unbedingt nicht sehen.

All dies passierte nicht im Zweifel, sondern in dem Wissen, dass es Beweismittel gab, die kaum besser zur Aufklärung dieses Terroranschlages hätten beitragen können. Eine Videoüberwachungskamera hatte den Tathergang minutiös festgehalten: »Gegen 14.30 Uhr schiebt ein etwa 25 bis 30 Jahre alter Mann mit Baseballkappe zwei Mountainbikes durch die Schanzenstraße. Kurz darauf kommt er ohne die Räder zurück. Um 15.10 Uhr taucht er wieder auf – gefolgt von einem weiteren gleichaltrigen Mann, der ein Damenfahrrad mit aufmontiertem Hartschalenkoffer schiebt. Darin ist eine Bombe versteckt...«

Dieses Beweismittel kommt dem Umstand sehr nahe, am Tatort einen Personalausweis zurückzulassen: Obwohl die beiden Männer Mützen tragen, sind ihre Gesichter zu erkennen. Jeder Ermittler im Probejahr wüsste, was jetzt zu tun ist. Man hat als Beweismittel die Reste der Nagelbombe und hat die Physionomie der Täter. Man hat einen Tatort, der einen gezielten Anschlag definitiv ausschließt. Alleine dieses Tatprofil lässt alles andere wahrscheinlicher erscheinen, als eine Abrechnung im kriminellen Milieu.

Wäre tatsächlich auch nur eine Sekunde daran gedacht worden, in ›alle Richtungen‹ zu ermitteln, wären die nächsten Schritte ein Kinderspiel gewesen.

Das BKA führt eine Datei mit dem Namen ›Tatmittelmeldedienst für Spreng- und Brandvorrichtungen‹ (TMD). Darin sind auch die Bombenfunde in der Jenaer Garage aufgelistet, also auch die Bilder der drei abgetauchten THS-Mitglieder. Alleine die Nutzung dieser Datei hätte ausgereicht, um diesen Terrorakt zuzuordnen.

Neben dieser Datei verfügen Polizei- und Geheimdienste auch über eine ›Rechtsextremismus‹-Datei, in der die NSU-Mitglieder ebenfalls aufgeführt sind. Weder der eine, noch der andere Ermittlungsschritt wurden unternommen. Dass es sich dabei nicht um ein persönliches Versagen handelt, sondern um die Umsetzung einer Dienstanweisung, an die sich alle gehalten haben, belegt der Fortgang der Ermittlungen: Weder die Polizeiermittler vor Ort, die darin involvierten Verfassungsschutzbehörden, noch die damit befasste Staatsanwaltschaft änderten die Richtung. Niemand in dieser langen Dienstkette stellte sich quer, scherte aus - bis heute.

Im Bundesuntersuchungssauschuss war auch dieser Terroranschlag Thema. Man führte den Anwesenden die Sequenzen der Überwachungskamera vor. Die Aufnahmen sind gut, was den ehemaligen Polizisten und heutigen CDU-Bundestagabgeordneten Clemens Binninger zu der Äußerung veranlasste: »Wer die beiden kennt, würde sie auf diesen Bildern identifizieren.« Weniger später fügte er hinzu: »Näher kann man einem Täter nicht sein! Ich sage das als ehemaliger Polizist. So nah, wie Sie den Tätern waren, kommt man als Ermittler den Tätern nie wieder!« (Auf offener Bühne, FR vom 20.7.2012)

Auch der damalige Chef des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke wird befragt. Der sich dabei entsponnene Dialog zwischen dem BKA-Chef Ziercke und dem Fragesteller Clemens Binninger hat Mely Kiyak, die diese Sitzung beobachtet hatte, wie folgt zusammengefasst:

»Ach so?!« antwortete Ziercke auf die Frage, warum man sich nicht der Tatmitteldatei bedient habe.

Binninger bleibt kühl und ruhig: »Warum haben Sie die Tatmeldedatei nicht bedient?«

Ziercke wird zickig: »Das müssen Sie mir beweisen, dass die drei Namen aufgetaucht wären. Sensationell!«

Binninger: »Ich habe mein Wissen aus den vorliegenden Akten.«

Ziercke wird noch lauter: »Sen-sat-io-nell!!! Und das haben Sie nachgeprüft?« (Auf offener Bühne, FR vom 20.7.2012)

Nach dieser Falschaussage ging der BKA-Chef in den wohldotierten Vorruhestand. Höher kann man Straftaten im Amt nicht entlohnen.

Mely Kiyak, die für die Frankfurter Rundschau einige herausragenden Kolumnen geschrieben hat, fasste ihre Eindrücke an anderer Stelle so zusammen:

›Es gab keine heiße Spur‹, verteidigen sich ehemalige Minister, keine heiße Spur in einem Land, wo allein in den letzten zwanzig Jahren 182 Mitbürger von Rechtsextremisten getötet wurden, deren Taten ›fremdenfeindlich‹ genannt werden. Die Opfer sind fremd und die Täter stehen uns nahe? Gibt es Zeugen für das Märchen vom NSU-Untergrund? (FR vom 4.6.2012)

Wie weit reichte der staatliche Rettungsschirm für den NSU?

Mit aller Wut und allen Erfahrungen könnte man antworten: Neonazistische und rassistische Weltbilder sind nicht nur in neofaschistischen Gruppierungen beheimatet, sondern auch in Polizei und Geheimdiensten verbeamtet. Damit ist ein politische Matrix beschreiben, die bestimmte Entscheidungen wahrscheinlich(er) macht. Aber das reicht nicht, um folgende Fragen beantworten zu können:

Warum wurde ein staatlicher Rettungsschirm über den NSU aufgespannt? Wie weit reichte er? Was schloss er ein, was schloss er aus? Was war gewollt, was nahm man in Kauf? Geht es beim Vorwurf des Staatsterrorismus um eine Intension, um eine willentliche Zustimmung oder um eine Vorgehensweise, für die neonazistischen Morde keine Dead-Line darstellen?

Auf diesem schmalen Grad bewegt sich meine Suche nach Antworten. Ich werde mich dabei von der wohlwollendsten zur schlimmsten Annahme vortasten.

Es gehört zu der gängigen Praxis von Geheimdiensten ›kleine Fische‹ laufen zu lassen, damit man mit ihrer Hilfe an die ›großen Fische‹ herankommt. In diesem Fall könnte man davon ausgehen, dass die abgetauchten THS-Mitglieder zu Blood & Honour-Gruppierungen führen sollten, zu denen sie hervorragende Kontakte pflegten. Das setzt eine hervorragende ›Führung‹ der Abgetauchten durch die beteiligten Geheimdienste voraus, was auch sehr gut belegt ist. Geht man wohlwollend von dieser Zieloption aus, dann müssten zuallererst die Verfolgungsbehörden belegen, dass sich dieser Einsatz, dieser immense Aufwand gelohnt hat. Dieser Beweis ist bis heute nicht erbracht.

Wenn es so gewesen ist, dann stellen sich jedoch weitere Fragen: Warum gehen die Verfolgungsbehörden mit diesem ›ehrenwerten‹ Operationsziel nicht offensiv um? Warum leugnen sie bis heute, dass sie beste Kontakte zu den untergetauchten Neonazis hatten?

Jenseits davon, was man von diesem möglichen Operationsziel hält – die Situation änderte sich schlagartig, als im Jahr 2000 der erste Mord in Nürnberg, den man heute den abgetauchten Neonazis zuschreibt, begangen wurde.

Denn nun müssten die Verfolgungsbehörden glaubhaft belegen können, dass sie zwar fast alles über die Abgetauchten wussten, aber keine Ahnung, geschweige denn Hinweise hatte, dass die Abgetauchten einen Mord planen bzw. tatsächlich durchführen.

Wer würde ihnen das glauben? Wer würde ihnen das abnehmen wollen?

Nun, es gäbe einen sicheren und glaubwürdigen Weg, das schier Unmögliche zu belegen: Man legt alle V-Mann-Protokolle, alle V-Mann-Berichte, alle Unterlagen über Observationen, Abhörmaßnahmen und Erkenntnisse von Kontaktpersonen aus dem Zeitraum 2000 bis 2011 offen. Könnten diese Unterlagen genau dies, würde es sie heute noch geben! Könnten all die Akten glaubhaft und nachvollziehbar belegen, dass die Verfolgungsbehörden keine Ahnung von den Mordplänen hatten, keine einzige Möglichkeit hatten, die Mordserie zu stoppen, würde man sie den Untersuchungsausschüssen, den Angehörigen der Opfer, den Staatsanwaltschaften, der Öffentlichkeit vorlegen.

Exakt das Gegenteil passiert: Ein in Deutschland in diesem Ausmaß nie da gewesene Aktenvernichtungswelle frisst sich durch alle Behörden. Es gibt kaum eine Dienststelle, die nicht daran beteiligt ist: Bislang sind Akten- und Beweisvernichtungsaktionen im Thüringer, Sächsischen, Berliner Verfassungsschutz, bei der Thüringer Polizei, im LKA Berlin, im BKA Wiesbaden, im BfV in Köln, beim Bundesnachrichtendienst/BND und im Bundesinnenministerium  bekannt geworden.

Der genetische Fingerabdruck, den diese einmalige Beseitigung von Beweismitteln dennoch hinterlässt, ist aus mehreren Gründen aufschlussreich:

Die Aktion Konfetti von Polizei und Verfassungsschutz/MAD, von unteren und obersten Dienststellen, von CDU bis SPD-geführten Ländern belegt, dass das gemeinsame Anliegen bei weitem die tatsächlichen und vermeintlichen Konkurrenzen zwischen verschiedenen Behörden überragt. Das Behörden-übergreifende Bedürfnis, Beweise und Hinweise zu vernichten, die belegen könnten, dass die neonazistische Mordserie zu verhindern gewesen wäre, ist offensichtlich so immens, dass selbst die Aufdeckung dieser Rechtsbrüche in Kauf genommen wurde.

Die nicht enden werdende Beseitigung von Beweismitteln lässt einen weiteren Schluss zu: Die stattgefundenen und stattfindenden Schredderaktionen können das ›gerichtsverwertbare‹ Wissen nicht mehr aus der Welt schaffen, dass die Verfolgungsbehörden die Spur der Abgetauchten nie verloren hatten. Was heute und morgen jedoch um fast jeden Preis verhindert werden muss, dass es Hinweise, Belege und Beweise dafür gibt, dass die Verfolgungsbehörden Kenntnisse über Planung und Durchführung der Morde hatten.

Die nicht mehr zu leugnenden Beweise, die einen engen Kontakt zwischen Verfolgungsbehörden und den abgetauchten Neonazis zwischen 1998 und 2000 verifizieren, belegen im günstigsten Fall, dass man sie in den Untergrund begleitete, um an neonazistische Organisationen heranzukommen, die man zerschlagen wollte. Im schlechtesten Fall belegen die bekannt gewordenen Fakten, dass man die abgetauchten THS-Mitglieder gar nicht festnehmen wollte, weil man mit ihrem neonazistischen und rassistischen Weltbild sympathisierte.
Würden hingegen Belege, Hinweise an die Öffentlichkeit gelangen, die den Verdacht erhärten, dass die Verfolgungsbehörden auch nach dem ersten Mord 2000 Kontakt zum NSU hatten, wäre mehr als eine Sympathie oder Gleichgültigkeit gegenüber neonazistischen Gruppierungen belegbar. Es würde sich in diesem Fall um Beihilfe zum Mord handeln, um die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach § 129 a des StGB.

Der Verdacht eines staatsterroristischen Hintergrundes, für den schon heute mehr Belege gibt als für die offizielle Version, ist weder polemisch, noch überspitzt gemeint. Es geht schlicht darum, die Aufklärer beim Wort zu nehmen, man werde ohne Ansehen der Person lückenlos und schonungslos aufklären.
Was man mit dem Strafrechtsparagrafen 129a alles machen kann, erklärt uns Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 9. November 2012 am Beispiel der Anklageschrift gegen Beate Zschäpe:
»Man muss eine Tat nicht eigenständig begehen, um Mittäter zu sein; es genügt ein wesentlicher Tatbeitrag, der sich einfügt in die gemeinschaftliche Tat und ins gemeinschaftliche Wollen.« In diesem Sinne genüge es, der Angeklagten ›Organisationsmacht‹ nachzuweisen. Mit welchem Verfolgungswillen dieser Paragraf gegen Linke eingesetzt wurde, verrät uns Heribert Prantl auch. Zu RAF-Zeiten ließ die Justiz »quasi unsichtbare Tatbeiträge für Mittäterschaft genügen«.

Solange dieses Instrument des Willensstraftrechts noch angewandt wird, sollte man es aversiv nutzen, und Strafanzeige wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung stellen. Dabei ginge es weniger darum, auf einen juristischen Erfolg zu setzen. Vielmehr ginge es darum, die Richtung der Aufklärung zu ändern, die Systematik, das Zusammenwirken in den Mittepunkt zu stellen, um zu verstehen, warum es einem Zusammenhang gibt, zwischen dem staatlichen Begleitschutz in den Nationalsozialistischen Untergrund und den Morden, die man nicht verhindert hat bzw. nicht stoppen wollte.


Texte, die ausführlicher auf die hier ausgeführte Argumentation eingehen, verschiedene Punkte beleuchten, die hier nur komprimiert dargestellt werden konnten, findet ihr hier: http://wolfwetzel.wordpress.com/category/04-texte/antifaschismus/