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Zurück aus St. Imier

Ein Report

Die anarchistische Geschichte von St. Imier ist nun um eine Episode reicher. 140 Jahre nach der Gründung der anitautoritären Internationalen an eben jenem Ort, war das internationale anarchistische Zusammentreffen sicherlich ein Ereignis für die Bewegung, wie es schon lange keines gegeben hat. Tausende von Anarchist_innen aus aller Herren Länder haben sich getroffen, um sich gegen diese Herren zu verschwören. Zahlreiche Workshops, Filme, Konzerte, eine Buchmesse und veganes Essen standen im Programm, zahlreiche spontane Aktivitäten entsprangen aus den verschiedensten Anlässen. Vorträge zu der Situation in Ländern von Brasilien über Japan bis Zimbabwe fanden statt. Wer sich mehrere dieser Vorträge anhörte bekam einen Einblick in die unterschiedlichsten Problemlagen, die verschiedensten Umgangsweisen damit und in die kulturelle Färbung der über die Welt verstreuten anarchistischen Bewegung. Wer sich über die Repressions- und Aktionswellen in ihrer nahezu globalen Bandbreite informiert hatte, konnte sich in den eigenen Aktivitäten relativiert fühlen.

Das Wetter war die ganze Woche lang gnädig, vielleicht sogar etwas zu gnädig angesichts einer erbarmungslosen Mittagssonne, die auf die von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort wandernden Scharen herabbrannte. Die Umgebung war für die wohl eher urbane anarchistische Bewegung eine wundervolle Abwechslung. Berge und Wälder bildeten den Rahmen unseres kleinen Versammlungsortes und veranlassten einige der Teilnehmenden zu ausgedehnten Wanderungen. St. Imier selbst präsentierte sich als ruhiges Städtchen - was einige, denen die historische Bedeutung des Ortes für die anarchistische Bewegung zu Kopf gestiegen war, enttäuschte - gleichzeitig aber eine gute Voraussetzung für den ruhigen Ablauf der Veranstaltungen darstellte. Die zwei Zeltplätze lagen auf einem der umgebenden Berge und waren entweder per Seilbahn, Auto oder einem über eine Stunde dauernden Aufstieg per Fuß erreichbar. Hunderte von Zelten verteilten sich über die beiden Plätze, die Infrastruktur für das Camping war hervorragend, was sich zum Beispiel an den warmen Duschen offenbarte!

Das Zusammentreffen trug deutlich den Stempel des organisierten Anarchismus, also im wesentlich der anarchistischen Föderationen, aber auch die syndikalistischen und anarchokommunistischen Organisationen, spielten eine wichtige Rolle. Dies war schon ab Programm mehr oder weniger deutlich abzulesen und zeigte sich auch im Inhalt in den einzelnen Veranstaltungen. Der insurrektionalistische Anarchismus war zumeist nur eine Schattenfigur, gegen die es sich abzugrenzen galt. In einem gewissen Sinne kann das Treffen somit auch als eine Herausforderung an den organisationskritischen Flügel der anarchistischen Bewegung, also Insurrektionalist_innen und Hyperindividualist_innen, gelesen werden. Hätte dieser Flügel ebenfalls ein solches Camp organisieren können? Zumindest hat er es bisher nicht getan. Und wenn sie jetzt sagen würden, dass sie es nicht wollen würden, warum nicht? Handelt es sich nicht eher um den Fuchs, der sich die unerreichbaren Trauben sauer redet?

Die Hegemonie der föderierten Anarchist_innen in der Planung zeigte sich allerdings auch darin, dass für spontane Selbstorganisation kein oder nur sehr wenig Platz eingeplant war. Die autonomeren Teile der Teilnehmer_innen haben sich diesen Platz jedoch schnell genommen, es wurden Extra-Workshops organisiert, Wände wurden zur Kommunikation mit Papier bedeckt und auf den Zeltplätzen fanden vereinzelte Plena statt.
Dennoch gab es weniger gemeinschaftliche Räume, die zum Kennenlernen einluden, als einige Anarchist_innen gewohnt waren. Stattdessen konnte mensch sich eine enthusiastische Geschichtsstunde zur ersten Internationalen anhören.

Doch selbst wenn sie sich manchmal eher nebeneinander als miteinander trafen, so ist es doch positiv, dass sich in St. Imier die zwei mancherorts sehr zerstrittenen Flügel von organisierten und organisationskritischen Anarchist_innen als eine Bewegung trafen. Die Trennung in einen "sozialen Anarchismus" und einen "Lifestyle-Anarchismus", wie sie in manchen Veranstaltungen gezogen wurde, ist dabei eher trennende Polemik als progressive Kritik. Denn ihr fehlt die zentrale Erkenntnis, dass der Lebensstil selbst ein soziales und in diesem Sinne politisches Phänomen ist. Die Pluralität der anarchistischen Bewegung sollte doch zumindest anerkannt und akzeptiert werden, wenn sie schon nicht als Stärke wahrgenommen wird. Das Treffen selbst war mit der Teilnahme von Personen unterschiedlichsten Alters und Lebensweisen Zeugnis einer solchen Pluralität. Und Anarchismus, das heißt die Idee der freie Vereinigung freier Einzelner abseits jeder Herrschaft, hat sich als dünnes, aber doch mehr oder weniger universales Band bewährt.

Die Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden hat jedoch auch zu Frust geführt. Viel Unzufriedenheit gab es mit den Übersetzungen, denen zu folgen oft schwer fiel. Abseits des offiziellen Programms bildete sich ein fröhliches Kauderwelsch aus zumeist Englisch, Französisch und Deutsch heraus. Teilweise kam es jedoch auch zur Gruppierung entlang der Sprachgrenzen, auf einem der Zeltplätze hatten sich die allabendlichen Lagerfeuer nach einigen Tagen nahezu perfekt nach Sprachen sortiert. Auf diese Art und Weise wurden immer wieder Ausschlüsse durch den Umgang mit Sprache produziert. Die zahlreich ausliegenden Flyer für Esperanto sind wohl höchstens eine langfristige Lösung. Kurzfristig wäre etwas mehr Geduld, Offenheit und Anstrengung wünschenswert gewesen.

Ein wesentlich gravierenderes Problem gab es im Bezug auf die Reflexion der männlichen* Hegemonie. Der aller größte Teil der angekündigten Veranstaltungen wurden von Männern* abgehalten, ohne dass dies ausreichend problematisiert worden wäre. Der täglich stattfindende runde Tisch zu Anarchafeminismus wurde bald für Männer* geschlossen, was wohl der Notwendigkeit entsprang. Es fehlte eindeutig an Problembewusstsein, daran konnte die auch rasch gebildete Awareness-Gruppe kaum mehr etwas ändern. Sexualisierte Übergriffe fanden statt, hierbei scheint besonders der Alkohol- und Drogenkonsum eine Rolle gespielt zu haben. Womöglich sollte sich die anarchistische Bewegung am revolutionären Frauen*gesetz der Zapatist_innen ein Beispiel nehmen und Drogen, die die Hemmschwelle für Gewalt senken, schlichtweg verbannen oder zumindest wesentlich stärker einschränken. Wenn sonst keine Möglichkeit besteht die Übergriffe zu beenden, ist dies der einzig vernünftige Schritt. Auf jeden Fall muss definitiv weitere Anstrengungen innerhalb der Bewegung geleistet werden, um solche Szenen, wie sie sich diesbezüglich in St. Imier abgespielt haben zu verunmöglichen!

Auch der Eurozentrismus der anarchistischen Bewegung konnte nicht überwunden werden. Lediglich Südamerika spielte dank seiner vergleichsweise starken und stark organisierten anarchistischen Bewegung eine größere Rolle. Wiederum wurde dieser sehr bedenkliche Fakt kaum angesprochen. Und wäre es nicht nach 140 Jahren an der Zeit ein internationales anarchistisches Zusammentreffen außerhalb Europas zu veranstalten?

Die Berichterstattung zu St. Imier in den bürgerlichen Medien war teilweise sympathisch, manchmal distanziert, oft einfach schlecht informiert. So wurde in vielen Medien das Verbot von Hunden erwähnt, welches offiziell existierte. Dass dieses Verbot jedoch nicht durchgesetzt wurde und sich eine große Anzahl von Hunden auf dem Camp befand, wurde nicht erwähnt. (Intern sollten wir überlegen, warum dem Aufruf der Organisator_innen nicht Folge geleistet wurde und ob dies eigentlich unserem eigenen Anspruch genügt.)
Besonders peinlich ist der Bericht im Spiegel, der aus klischeehaften Darstellungen, einem beleidigten Unterton und Ungenauigkeiten besteht. So beklagt sich der Autor Frank Patalong, dass er als Pressevertreter nicht zum Campingplatz durfte und somit die vegane Gemeinschaftsküche nicht sehen konnte. In der Tat waren Journalist_innen unerwünscht am Zeltplatz, die Essensausgabe fand jedoch im Dorf statt und stand somit auch Frank Patalong offen. Offensichtlich hat der Autor nicht viel Zeit vor Ort verbracht. Warum Journalist_innen bürgerlicher Medien nicht unbedingt gern gesehen werden auf anarchistischen Treffen, hat er sich aber durch seinen oberflächlich recherchierten Artikel selbst beantwortet.

Wie war das Treffen jedoch wirklich? War es erfolgreich? Hat es sein Ziel erfüllt? Die anarchistische Pluralität ist wieder einmal zu Tage getreten, um somit gab es nicht das eine Ziel. Die Internationale der anarchistischen Föderationen, die ihren Kongress in St. Imier relativ abgeschottet von den restlichen Teilnehmer_innen abhielt, hat sicher andere Ziele verfolgt als die Dosenbier trinkenden Punks aus irgendwo. Und wieder einmal hat sich gezeigt, dass der Anarchismus als Bewegung abhängig ist von den Partizipierenden. Je nachdem an wen mensch geriet, wurden die Tage womöglich zu einem erfolgreiches Vernetzungstreffen oder einer enttäuschenden Konfrontation mit Sexismus.  Zu hoffen bleibt, dass das Treffen die Bewegung so gestärkt hat, dass sie es schafft sich selbst zu stärken, eben indem sie sich kritisch mit sich selbst und ihrem Zusammenhang mit der Gesellschaft auseinandersetzt.

 

Anmerkung zur hier verwendeten Sprache:

Der Text wurde unter der Verwendung der Gender Gap, dem Unterzeichen zwischen der männlichen* und der weiblichen* Formulierung, gegendert. Das Unterzeichen soll ein Stolpern an einer Stelle erzeugen an der Personen in der Sprache nicht direkt einzublenden sind, nämlich außerhalb der Pole männlich* und weiblich*. Zudem wurde hinter die Wörter, die ein Geschlecht beschreiben ein Stern gesetzt. Dies soll darauf aufmerksam zu machen, dass es sich hierbei um soziale Konstrukte und nicht um einfach positiv fassbare Gegenstände handelt.


Kommentare

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Wie sieht es eigentlich mit Dokumentation zum Treffen aus? In anderen aktivistischen Zusammenhängen bin ich mittlerweile durch komplette Video-/Audioaufzeichnungen der Vorträge verwöhnt. Auch Wikis sind ein Mittel zur Dokumentation. Dann gäbe es da noch die Möglichkeit, Beiträge in einem Reader zu sammeln, wie z.B. hier geschehen: http://www.akongress.org/

Irgendwas davon für Saint-Imier in Aussicht?

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Ich würde gerne was zum Thema zum Vorwurf des Eurozentrismus sagen, zumindest zu bestimmten Aspekten davon.

Es ist klar, dass ein Treffen im Herzen von Europa vor allem von Europäer*innen besucht sein wird. Allerdings löst eine Verlegung zu einem anderen Weltteil das eigentlich strukturelle Problem in keinster Weise: Auch dort würden (bis auf die Leute aus dem Land selbst) vermutlich wieder Europäer*innen in der Mehrzahl sein. Warum? Weil die einfach die Kohle für die Reise haben.

Insofern ist es wirklich als Verdienst dieses Treffens anzusehen (und des organisierten Anarchismus im Speziellen, der über die notwendigen Kontaktstrukturen verfügte und es ermöglichte, mit einer 5-stelligen Eurosumme die Reisen vieler Genoss*innen aus aller Welt komplett oder zumindest teilweise zu übernehmen), dass vergleichsweise viele Vertreter*innen anarchistischer Bewegungen außerhalb von Europa ebenfalls anwesend sein und ihre Inhalte einbringen konnten. Ein Blick ins Programm reicht um zu sehen, dass es relativ viele Vorträge/Workshops von Nicht-Europäer*innen gab (mit einem starken Überhang aus Lateinamerika, wie Tuli korrekterweise feststellt).

Die Tatsache, dass so viele Aktivist*innen aus Lateinamerika da waren, führte erfreulicherweise auch gleich zu einem spontan einberufenen Treffen vor dem IFA-Saal, wo über ein anarchistisches Kontinentaltreffen (vermutlich in Brasilien 2013) diskutiert wurde und erste konkrete Schritte besprochen werden konnten.

Als großes Problem, für das es praktisch keine Lösung gibt, erwies sich auch dieses Mal, dass es für Menschen, die nicht aus den westlichen Industrienationen kommen, recht schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, andere Länder zu besuchen. Und das beschränkt sich nicht allein auf eine Einreise in den Schengen-Raum. Bei Gesprächen über ein angedachtes anarchistisches Mittelmeertreffen offenbarte sich, dass es für Genoss*innen aus Tunesien bspw. keineswegs leichter sein würde nach Ägypten oder in die Türkei zu reisen. Ich würde also generell diagnostizieren, dass fehlendes Geld (und auch fehlende Zeit bzw. die fehlende Möglichkeit, eine Auszeit vom Job zu nehmen!) sowie Reisebeschränkungen zu den wichtigsten Ausschlussmechanismen für diese Art von Zusammenkünften gehören.

Dessen ungeachtet gibt es bestimmt einen Eurozentrismus in der Wahrnehmung der anarchistischen Bewegung. Das ist jedoch ein ganz eigenes Thema.

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Ja, die Hintergründe des Eurozentrismus dieses Camps sind auch weitgehend außerhalb der anarchistischen Bewegung selbst zu sehen. Was mich jedoch am meisten gestört hat, war die fehlende Bewusstmachung des Problems.

Auch in den organisierten Anarchismus habe ich nur beschränkte Hoffnungen. Wenn wir uns anschauen, wo die IFA existiert, ist zu sehen, wie beschränkt sie selbst ist: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2b/IAF-IFA_map_January_...

Ich denke, wir sollten uns auch außerhalb der größeren anarchistischen Organisationen überlegen, wie wir mehr Personen die Reise zum nächsten Kongress ermöglichen können. Sicherlich gibt es Grenzen, aber das Potential haben wir noch nicht ausgeschöpft.

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1)
Was die fehlende Bewusstmachung des Problems auf dem Treffen selbst angeht, so gebe ich dir völlig recht. Das wiegt natürlich umso schwerer, wenn das Treffen direkt als "Welttreffen des Anarchismus" tituliert wird. Da sehe ich aber eine klare Kontinuität zum fehlenden Problembewusstsein des Orga-Komitees auch bei anderen Fragen (Awareness etwa)... oder zumindest der Scheu oder dem fehlenden Interesse an einer öffentlichen Auseinandersetzung darum.

2)
Was den organisierten Anarchismus angeht, so finde ich schon, dass dies ein wichtiger Weg ist, wobei der Begriff leider sehr irreführend und unnötig ausschließend ist: Gemeint ist ja keineswegs, dass nur "organisierte Anarchist*innen" organisiert wären, denn viele, wenn nicht gar die meisten Anarchist*innen sind irgendwo organisiert. Die Bezeichnung bezieht sich ja vielmehr darauf, dass diese Menschen in explizit anarchistischen Organisationen aktiv sind, im Gegensatz zu Einzelpunktthemen wie Atom oder Tierrecht. Und diese Gruppen sind dann in der Regel untereinander mehr oder weniger stark vernetzt. Jedenfalls sehe ich als großen Vorteil der großen Organisationen die Fähigkeit zur kontinuierlichen Arbeit und der kontinuierlichen Pflege von Kontakten - von Orga zu Orga statt nur von Individuum zu Individuum. Letzteres birgt einfach die ganz konkrete und oftmals erlebte Gefahr, dass der Kontakt verloren geht, sobald die Kontaktperson ihre Aktivität einstellt, umzieht oder aus anderen Gründen nicht mehr erreichbar ist (Krankheit, Repression etc.). Der Gruppenkontakt garantiert das zwar nicht, ist aber eine stabilere Basis.
Trotzdem ist der "organisierte Anarchismus" natürlich kein Allheilmittel - sonst stünde auch die IFA anders da... Die Ursachen der geographischen Beschränktheit der IFA sind allerding sehr vielfältig und darauf einzugehen, würde den Rahmen dieses Kommentars bei weitem sprengen.

3)
Ja, es gibt noch deutlich Luft nach oben. Eine völlig brachliegende Ressource, die wir bei internationalen Kooperationen und Treffen unbedingt, egal in welchem Zusammenhang, stärker nutzen müssten, sind Videokonferenzen (oder wenigstens ein Austausch über Audio-Livestreams, so dass sogar viele andere (ortsunabhängig!) dem Austausch folgen können) - beides habe ich bereits direkt erlebt (inkl. integrierter Übersetzung) und es ist einfach bereichernd. Es gibt auch Alternativen zu Skype!
Jedenfalls ersetzt eine Videokonferenz natürlich nicht die Anwesenheit eines*r Referent*in, aber dieses Mittel spart viel Geld und umgeht alle Reisebeschränkungen. Es lässt sich sogar in Ländern mit Internetzensur mit der geeigneten Software einsetzen. Konkret habe ich jetzt gedacht, dass der in St. Imier ausgefallene Workshop zu sozialen Kämpfen in China, der ausfiel, weil der Referent keine Ausreiseerlaubnis erhielt, genau so hätte dann dennoch umgesetzt werden können (und eigentlich auch müssen).

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Danke für die Ergänzung. Ich fand es schon bemerkenswert, dass überhaupt Reisekostensubventionen organisiert werden konnten.