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Image und Realität des "Verfassungsschutzes"

Der politische Inlandsgeheimdienst der BRD, das "Bundesamt für Verfassungsschutz" mitsamt seiner Ableger in den Bundesländern, hat ein Imageproblem. Noch vor kurzem schien es, als hätte das Urteil des VS den Status eines offiziellen, allgemein anerkannten "Demokratieprüfsiegels": Wurde eine Organisation "vom Verfassungsschutz beobachtet", so stand dieser Satz oft im ersten Absatz des Wikipedia-Artikels über die jeweilige Organisation. (Beispiel: 'solid) Die Wikipedia-Community könnte sich einmal fragen, ob es wirklich zur Definition einer politischen Gruppierung gehört, wie sie von ihren politischen Gegnern beurteilt wird.

Aber hier gibt es vielleicht eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit: Kritiker von links sahen den VS schon immer als politische Organisation, die ihre ganz eigenen Interessen mit militanten Mitteln verfolgt. Im bürgerlichen Millieu sah man das anders: Der VS scheint hier eine übergeordnete, idealistische Institution zu sein, mit keinem anderen Interesse als dem Schutz der "freiheitlich demokratischen Grundordnung" gegen "Extremisten". Ganz gleich ob du Migranten zusammenschlägst oder für die anarcho-pazifistische Zeitung Graswurzelrevolution schreibst, ein Platz im Verfassungsschutzbericht ist dir sicher. Jegliche politische Aktivität soll "auf dem Boden der Verfassung" stehen, oder von vornherein delegitimiert werden. Und ob sie das tut, das beurteilt der Verfassungsschutz. Dies ist ironischerweise eine zutiefst antidemokratische Einstellung, die die Verfassung der demokratischen Auseinandersetzung entziehen und sie für alle Zeiten festschreiben will. Noch dazu wird ausgerechnet ein völlig intransparenter Geheimdienst zum Richter darüber erhoben. Aber was wäre bürgerliche Ideologie ohne ihre internen Widersprüche?

Auf die Spitze getrieben wurde dieser Ansatz von der aktuellen Bundesregierung auf Initiative von Kristina Schröder. Die Unterschrift unter eine Extremismusklausel ("Demokratieerkärung") sollte beim Engagement gegen Nazis zur Bedingung für Fördermittel gemacht werden. Vereinen sollte sogar die Steuerfreiheit ("Gemeinnützigkeit") aberkannt werden, wenn sich das BfVS negativ über sie äußerte. Mittlerweile wurden diese Pläne zurückgezogen.

Und dann der Skandal im Sommer 2012. Wir erinnern uns: Nicht genug, dass in der BRD eine Zelle von Neonazis über Jahre hinweg mehrere Morde an Migranten und einer Polizistin verüben konnte. Nicht genug, dass die Polizei, ihren Vorurteilen folgend, daraufhin im "kriminellen Ausländermillieu" ermittelte und Hinweise auf einen rechtsradikalen Hintergrund ignorierte. Dann kommt stückchenweise ans Licht, dass der Verfassungsschutz auf brisante Weise in die Aktivitäten der Terrorgruppe verstrickt ist. Um hier nur einige der Verbindungen aufzuzählen:

  • Laut Bericht der Welt am Sonntag soll ein V-Mann des Berliner Staatsschutzes 1,1 kg TNT an den NSU geliefert haben.
  • Laut Bericht des MDR sei 1998/1999 der Zugriff eines Sondereinsatzkommandos auf den NSU geplant gewesen. Der Einsatz sei kurz vor Abfahrt des SEK abgebrochen worden, unter Protest der beteiligten Beamten.
  • Laut Bild am Sonntag ließ der Geheimdienst dem NSU über 2000 DM zukommen, um gefälschte Pässe zu erwerben.
  • Laut Berliner Zeitung hatte der italienische Inlandsgeheimdienst AISI 2011 dem VS seine Erkenntnisse über den NSU mitgeteilt. Den Hinweisen wurde seitens des VS nicht nachgegangen.
  • Nach dem Mord am Betreiber eines Kasseler Internetcafés sagten mehrere Zeugen aus, weder NSU-Mitglieder Mundlos noch Böhnhardt am Tatort gesehen zu haben, wohl aber den V-Mann-Führer Andreas Temme (Artikel in Telepolis)

Während viele Details unklar bleiben, kann nun als Fakt gelten, was zuvor wohl nur die schärfsten Kritiker unterstellt haben: Diese Behörd trägt Mitverantwortung für rassistische Morde. Die Unterstützung und Finanzierung neofaschistischer Betätigungen kann keinesfalls als "Panne" oder "Versäumnis" abgetan werden. Zu diskutieren ist nur noch: Handelt es sich hier um systematisches Versagen oder gar um vorsätzliches Handeln eines rechtsoffenen Geheimdienstes, der sich verselbständigt hat?

Noch immer weitet sich der Skandal aus: Wie in den vergangenen Wochen bekannt wurde, schredderte der VS Akten zum Thema Rechtsextremismus, die nicht zur Vernichtung gedacht waren. Zwar wurde schnell die Behauptung aufgestellt, dass diese Akten mit der NSU nicht im Zusammenhang gestanden hätten, diese Behauptung wurde aber von publikative.org stark angezweifelt:

Akten werden versehentlich geschreddert, wie viele es waren, weiß man nicht, aber dass diese nichts mit dem NSU-Komplex zu tun haben, das weiß man.

Die Grenzen zwischen Neonazis und dem Teil des Staates, der uns angeblich vor ihnen schützt, sind extrem undeutlich geworden. Das Imageproblem hat einen erheblichen Grund.  Dennoch geht die reguläre Arbeit der Behörde weiter - mit Rat und Tat gegen "jede Form von Extremismus". Wie das funktioniert zeigt uns der Verfassungsschutz in einem neuen Imagevideo - komplett mit realistisch nachgestellten Szenen aus dem Alltag der Terroristenjagd.

 Seit einem Jahr gibt es sogar ein "Aussteigerprogramm für Linksextremisten". Auf Anfrage der Linkspartei stellte sich heraus, dass sich das Aussteigerprogramm (in Form einer Hotline) als komplette Blamage erwiesen hat: Der Blog metronaut fasst es so zusammen:

Und es läuft richtig, richtig super: ganze 33 Leute haben nach einem  Jahr Laufzeit angerufen, davon 19 im ersten Monat. Im September 2012  rief nur noch eine Person bei der so genannten “Hotline” an. Von diesen  sagenhaften 33 Anrufen…

  • waren 3 besorgte Familienangehörige (vermutlich die Eltern der unten genannten drei)
  • meinten es ganze 3 Personen ernst (vermutlich die Kinder der drei Anrufer oben)
  • bei einem Anrufer “wies das Anliegen keinerlei Bezug zum Linksextremismus auf” (Off-Topic-Querulant)
  • ein Anrufer wollte allgemeine Informationen zum Linksextremismus (“Bin ich da richtig beim Verfassungschutz?”)
  • und 25 Anrufer verarschten die Hotline (Zitat Bundesregierung: “ist von einer nicht ernstgemeinten Kontaktaufnahme auszugehen”)


 Lediglich einer einzigen Person soll dadurch beim Ausstieg geholfen worden sein. Es bleibt unserer Phantasie überlassen, was das konkret bedeutet. Vielleicht bekam ein ehemaliger Antifa-Aktivist ja den Umzug finanziert, weil er die Rache seiner Genossen fürchten musste, da er länger unabgemeldet beim wöchentlichen Plenum gefehlt hatte?

Für den Verfassungsschutz ist dies natürlich kein Grund, von seiner kruden extremismustheoretischen Gleichsetzung von sehr unterschiedlichen Ideen, Bewegungen und Szenen abzuweichen. Nachdem mitten im Skandal die Zukunft des Dienstes offen zur Debatte stand, stellen sich nun auch wieder Politiker demonstrativ hinter den Geheimdienst. Beispielsweise Innenminister Hans-Peter Friedrich, mit einer ideologischen Geradlinigkeit, die Erich Mielke vor Neid hätte erblassen lassen:

 "Wir brauchen das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Parlamente in die Arbeit des Verfassungsschutzes", sagte Friedrich nach Angaben der Behörde. Er sei ein "unverzichtbares Frühwarnsystem". [Der neue VS-Präsident] Maaßen sagte, er wolle die Behörde "so modern und effektiv wie möglich" aufstellen. "Dieses Amt nimmt eine unverzichtbare Rolle beim Schutz unserer freiheitlichen Demokratie ein." (N24)

Die Forderung nach "personellen Konsequenzen", "Reform" und "Modernisierung" in der Behörde hat mit progressiver Politik nichts zu tun. Es ist zu bezweifeln, dass das Parlament nun die nötige Konsequenz ziehen und alle Ämter für "Verfassungsschutz" auflösen wird. Dennoch, in der öffentlichen Wahrnehmung scheint sich etwas verändert zu haben. Im Gedächtnis ist geblieben, dass der VS viel zu tief in die Aktionen von Neonazis verstrickt ist, vor denen er doch eigentlich warnen und schützen soll. Bei Kundgebungen der NPD schallt den Nazis die Parole entgegen "Ohne Verfassungsschutz wärt ihr nur zu  dritt!", und man versteht was gemeint ist. "Beobachtung durch den Verfassungsschutz" taugt momentan kaum mehr dazu, linke Aktivisten zu stigmatisieren. Es wäre wünschenswert, dass Kritiker des Inlandsgeheimdienstes ihre Kräfte bündeln, ihre Argumente für die Abschaffung sammeln und stärker publizieren. So ließe sich vielleicht verhindern, dass der NSU-Skandal umgeben von personellen Konsequenzen und geschredderter Akten langsam unter den Teppich gekehrt wird.

Eine sinnvolle letzte Aufgabe für den VS und seine informellen Mitarbeiter bliebe allerdings noch vor der Auflösung: Könnten sie nicht einfach mal die NPD auflösen - per Mehrheitsbeschluss?

Eingebettetes Video: