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Neoliberalismus in Beton - Ein neues Gebäude für die Universität Göttingen

Die altehrwürdige Georg-August-Universität Göttingen hat ein neues Gebäude erhalten, das Lern- und Studiengebäude oder kurz LSG. Da es ganz neu und frisch ist, habe ich noch keinen Fuß hinein gesetzt, aber die Lust es zu erkunden wurde mir bereits ausgetrieben. Denn das LSG präsentiert sich als neoliberale Subjektvierungsmaschine. Dieses neue Gebäude möchte ich im folgenden als Fallbeispiel dafür nehmen, wie neoliberale Techniken und Praxen der Subjektivierung im universitären Kontext aussehen können.

Für jene, die nicht in Göttingen studieren, eine Information vorweg: Der eCampus ist die Webplattform über die Studierende zugriff zu unterschiedlichen Planungsfunktionen haben. Prinzipiell eine sinnvolle Einrichtung, die zahlreiche nützliche Funktionen hat. Mir wurde schon von Universitäten berichtet, wo es mehr oder weniger zur Pflicht wurde bei Facebook zu sein, um an die Informationen für Seminare zu kommen. In Göttingen haben wir stattdessen den eCampus, und bei aller Kritik liegt meine Universität im Vertrauen doch vor Facebook. Seit Neuestem jedoch etwas knapper.

Denn seit Neuestem findet sich in diesem eCampus der Unterabschnitt "LSG-Arbeitsräume". Warum, so könnte die Frage gestellt werden, braucht das neue Gebäude im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden eine spezielle Verwaltung über den eCampus? Nun dies ergibt sich aus der speziellen Funktionsweise des Gebäudes. Wer im eCampus auf den Abschnitt "LSG-Arbeitsräume" klickt, bekommt folgendes zu lesen:

"Im Lern- und Studiengebäude (LSG) neben der Zentralmensa hat die Einführungsphase begonnen.

So geht´s:

1. Reservieren Sie hier im eCampus Räume oder Schließfächer.
2. Zu Beginn des reservierten Zeitraums melden Sie sich am Terminal im LSG an.
3. Das System weist Ihnen einen Raum oder ein Schließfach zu und schreibt einen elektronischen Schlüssel zum Öffnen auf Ihren Studienausweis.
4. Am Ende der Nutzung müssen Sie sich am Terminal wieder abmelden."

Kurz gefasst, beim LSG handelt es sich um ein durchverwaltetes und durchverwaltendes Datenmonstrum. Allein beim pseudo-freundschaftlich bemüht-lockeren "So geht's" habe ich eine tiefe Abneigung gegen das Gebäude gewonnen, das um benutzt zu werden, eine elektronische Anmeldung erfordert. Es könnte ja auch eingewandt werden, dass es sich bei einer Universität eigentlich um eine öffentliche Institution handelt und deswegen alle die der Öffentlichkeit zutritt haben sollten, zumindest pro forma. Aber die Universität ist längst von der öffentlichen Institution zur Ausbildungsstätte geworden, spätestens mit der Bologna-Reform.

Ach all diese Tiraden meinerseits nur, weil wir uns elektronisch anmelden müssen, übertreibe ich nicht ein wenig?

Ein Effekt darf bei dieser Anmeldung nicht vergessen werden, wir stehen für die Reservierung mit unserem Namen und zwar mit unserem ganz persönlichem, individuellem Namen. Es kommt zu einer individualisierenden Disziplinierung, wie Foucault sie anhand des Panopticons bereits in "Überwachen und Strafen" geschildert hat:

"[I]m Panopticon [oder in unserem Fall dem LSG] findet man dieselbe Bemühung um individualisierende Beobachtung, um Charakterisierung und Klassifizierung, um analytische Aufteilung des Raumes." (Foucault 1977: 261)

Das alleine würde jedoch noch keine neoliberale Universität ausmachen, sondern "lediglich" eine technologische Verschärfung des Universität als Disziplinierungsanstalt bedeuten. Bisher würden noch die spezifisch neoliberalen Machttechnologien fehlen. Hier ist vielleicht ein kurzer Einschub angebracht, was unter Liberalismus zu verstehen ist. Dazu schreibt Foucault:

"Der Liberalismus ist also als Prinzip und Methode der Rationalisierung der Regierungsausübung zu analysieren – einer Rationalisierung, die, und hierin liegt ihre Besonderheit, der internen Regel maximaler Ökonomie gehorcht." (Foucault 2005b: 181)

Diese interne Regel maximaler Ökonomie kommt beim LSG folgendermaßen zu tragen: Wir Studierende müssen uns nicht nur elektronisch anmelden, sondern darüber hinaus wurde ein Belegungspunkte-System eingeführt. Dazu lässt sich auf der Webseite des LSG lesen:

"Die Nutzungsordnung des LSG bestimmt das System der Belegungspunkte. Hier findet ihr eine Übersicht, wie viele Punkte die Raumnutzung im LSG „kostet“: "

Im Anschluss findet sich eine Tabelle als Grafik, und ja sie schreiben in der Tat „kostet“ in Anführungszeichen. Offensichtlich ist die Vorstellung, dass der Markt oder marktähnliche Mechanismen die bestmögliche Allokation von Ressourcen bedeutet, mittlerweile tief in das universitäre System eingesickert.1 Wobei ich zugebe, dass die Orientierung am Mark hier noch rudimentär über ein einfaches Bezahlungssystem geschieht. Weitere Schritte wären die Einrichtung eines tatsächlichen Marktes, bei dem Studierende untereinander Belegungspunkte tauschen können, etwa gegen Gutschriften bei der Mensa oder ähnlichem. Auch eine Kopplung mit dem durch Bologna installierten Credit-System wäre denkbar, wer mehr Credits "erwirtschaft" erhält für seine_ihre "Leistung" mehr Belegungspunkte.

Aber bevor wir die Universitätsverwaltungen noch auf dumme Gedanken bringen lesen wir lieber weiter:

"Stornierungskosten

Bei Stornierung eines Raumes bzw. Schließfaches werden abhängig vom Zeitpunkt Belegungspunkte vom Belegungskonto der Nutzerin oder des Nutzers gemäß der nachfolgenden Tabelle gelöscht. Für stornierte Takte einer laufenden Belegung durch Stornierung oder Abmeldung vor Ende der Belegungszeit werden ebenfalls anteilig Belegungspunkte gelöscht.

Sofern durch das Bearbeiten einer Belegung eine Stornierung erfolgt, gilt: Wird durch das Bearbeiten der Belegung der Tag, für den die Belegung erfolgt, nicht geändert, werden die Belegungspunkte für die ursprüngliche Belegung vollständig gelöscht, sofern diese nicht höher sind als die Belegungspunkte für die geänderte Belegung. Übersteigen die Belegungspunkte für die ursprüngliche Belegung die Belegungspunkte für die bearbeitete Belegung, wird die Differenz nur anteilig gemäß obenstehender Tabelle gelöscht."

Hier sehen wir erneut eine Form die Aufdrängung der Verantwortung auf das Selbst, jede_r Einzelne muss möglichst sicher planen, um keine Stornierungskosten zahlen zu müssen. Ziel ist das Subjekt des Neoliberalismus, welches als aktives, eigenverantwortliches Selbst in der Lage ist sich selbst zu regieren (vgl. Mümken 2012: 169), entsprechend den Zielen denen es unterworfen ist.. Erziehung zum unternehmerischen Selbst gehört jetzt also zum Pflichtangebot der Universität Göttingen, beziehungsweise ist dies bereits seit der Bologna-Reform der Fall, wird aber durch das LSG weiter vorangetrieben. Damit wir uns auch entsprechend selbstkontrollieren können, werden im neuen Abschnitt im eCampus quantitative Daten über meine "Nutzungshistorie" bereitgestellt. Hier sei an die zentrale Rolle erinnert, die die Statistik laut Foucault (2005a: 166f.) für die Gouvernementalität 2 spielt. Das Auffällige ist, dass die Bewertung der statistischen Daten in diesem Fall an die individualisierten Subjekte ausgelagert wird und zwar durch die Orientierung an ökonomischen Prinzipien. Deswegen ist es meines Erachtens gerechtfertigt die im LSG manifest gewordenen Technologien der neoliberalen Gouvernementalität zuzurechnen (zum Begriff der neoliberalen Gouvernementalität vgl. Mümken 2012: 165-171).

Ich bin mir sicher, das Konzept des LSG ist beeindruckend effizient auf dem Papier und womöglich auch erschreckend effizient in der Umsetzung. Aber wir befänden uns nicht in neoliberalen Verhältnissen, wenn nicht darüber hinaus unsere Mitgestaltung (selbstverständlich im streng vorgegebenem Rahmen der Verwaltung, die uns effizient regierbar zu machen sucht) betont würde. Deswegen gab es einen Wettbewerb. Wohlgemerkt einen Wettbewerb, nicht etwa eine gemeinsame kreative Möglichkeit, sondern die einzelnen Studierenden können mit ihren "Leistungen" gegeneinander antreten:

"Gestalte deinen Platz!

Das Lern- und Studiengebäude ist ein Gebäude ausschließlich für euch. Bei der Ausstattung könnt ihr euch auf höhenverstellbare Tische und Bürostühle sowie einer Basisausstattung mit Monitor, Maus und Tastatur freuen. Aber um die Räume wirklich in eure Hände zu geben, haben wir euch nach euren Ideen gefragt!

Was war gefragt?

Fotografie | Grafik | Zeichnung | Malerei

Das Motiv konntet ihr selbst auswählen: Die einzige Einschränkung war, dass es in eine Lernumgebung passen soll, die euch gefällt und das Lernen angenehmer macht. Auch Collagen, Comics oder abstrakte Bilder waren möglich."

Auffällig ist, dass auch in diesem Wettbewerb wieder gezielt Individuen als solche angesprochen werden: "Gestalte deinen Platz!" Es wird dazu das Schicksal (im erlaubten Rahmen, wohlgemerkt) selbst in die Hand zu nehmen, aber eben nicht kollektiv. Und die Bereitstellung von Bildern, die noch dazu durch vermeintliche Autoritätspersonen ausgewählt werden, darf wohl im wörtlichen wie im bildlichen Sinne als oberflächliche Mitgestaltung bezeichnet werden.3 Aber wir wollen uns doch nicht in der Euphorie dämpfen lassen:

"Es ist eine wahre Freude, eure Bilder für den Wettbewerb „Gestalte deinen Platz!“ anzuschauen."

Interessant ist auch, dass die Barrierefreiheit des LSG betont wird:

"Bei der Planung des Gebäudes wurde großer Wert auf Barrierefreiheit gelegt. Im Erdgeschoss gibt es auch speziell auf Personen mit Mobilitätseinschränkungen zugeschnittene Räume."

Nun ist dies sicherlich besser, als wenn das LSG Barrieren hätte.4 Allerdings kommt mir sogleich folgendes in den Sinn:

"»Inklusion« hat sich in den letzten Jahren als wissenschaftlich-politische Zauberformel einer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung etabliert, der es – ganz akkumulationskompatibel – nicht in erster Linie um die Umverteilung materielle Ressourcen mit dem Ziel der Angleichung sozialer Lebenslagen, sondern vielmehr um die Ermöglichung von Teilhabe am Prozess der Produktion materieller Lebenschancen geht." (Lessenich in Dörre, Lessenich und Rosa 2009: 167)

Damit wir dem LSG als Fallbeispiel für die Festsetzung neoliberaler Gouvernementalität an den Universitäten gerecht werden, möchte ich auch die Abweichung vom neoliberalen Idealtypus aufzeigen. Es gibt Räume, die ohne Anmeldung und "Bezahlung" von Belegungspunkten nutzbar sind:

"Und schließlich bietet das LSG natürlich auch Pausenbereiche für verschiedene Stimmungen und Situationen: Sitzecken im Foyer und im Haupttreppenhaus, zwei  „leise Pausenräume“ zum Ausruhen oder entspannten Lesen sowie einen größeren Pausenraum mit Bistrocharakter, der durch seine raumbreite Glasfront einen beeindruckenden Blick auf den Innenhof bietet. Hier stehen auch Snack- und Getränkeautomaten."

Neben dem an einen Immobilienmakler erinnernden Jargon ist hier insbesondere eine Zweiteilung in streng effizient verwaltete Arbeitsräume und in mehr oder weniger lockere Pausenräume auffällig. Die Trennung von Arbeit und Freizeit spiegelt sich also wieder, dies ist eigentlich eher untypisch für neoliberale Machttechnologien. Meines Erachtens ist dies als notwendiges Zugeständnis zu lesen, ohne dies wäre das LSG mit dem immer noch stark verbreiteten Vorstellung einer Universität als öffentlichen Einrichtung, die eher kollektiv genutzt werden kann, als vereinzelnd aktivierend wirken soll, zu offensichtlich in Konflikt geraten.

Immer wieder bin ich von der Selbstverlogenheit der deutschen Universität als Institution beeindruckt. Da kann es einer_m geschehen in einer Prüfung abgefragt zu werden, was Foucault über Prüfung als Form der Disziplinizierung geschrieben hat. Da kann einer_m geschehen, Texte über Subjektivierung und neoliberale Gouvernementalität von Foucault empfohlen und bald darauf ein Musterbeispiel in Beton vorgesetzt zu bekommen. Da kann einer_m erklärt werden, das Ganze wäre für mich da, wobei ganz eindeutig das Ziel ist mich als neoliberales Subjekt zu produzieren.

Wie sich am Beispiel der Universität Göttingen zeigt werden neueste technologische Möglichkeiten angewendet, um die seit Bologna ohnehin fortschreitende Neoliberalisierung der Universitäten voranzutreiben. Am unerträglichsten ist mir allerdings, dass damit alle Fähigkeiten zu wahrlich freiheitlicher Selbstverwaltung, die nicht über zweckrationale Allokation, sondern über ein Ethos der Freiheit errungen wird, behindert werden und drohen zu verkümmern.

Das LSG ist für dich da, sofern du Student_in der Universität Göttingen bist, das heißt, die immer noch bestehenden Studiengebühren brav überwiesen hast, und sofern du dich so gut selbstverwaltest, dass du genügend Belegungspunkte zur Verfügung hast. Willkommen an der neoliberalen Universität zu Göttingen.

 

Links

Webseite des LSG - http://lsg.uni-goettingen.de

Blog des LSG - http://wordpress.uni-goettingen.de/

Die entsprechenden Zitate zum LSG, mit der Ausnahme jenes dem eCampus entnommenen, könnt ihr auf der LSG Seite bzw. dem Blog finden.

Literaturverzeichnis:

Dörre, Klaus; Lessenich, Stephan und Rosa, Hartmut (2009): Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (2005a): Die »Gouvernementalität« (Vortrag). In Defert, Daniel und Ewald, François (Hsg.): Analytik der Macht. Frankfurt am Main: 148-174.

Foucault, Michel (2005b): Die Geburt der Biopolitik. In Defert, Daniel und Ewald, François (Hsg.): Analytik der Macht. Frankfurt am Main: 180-187.

Mümken, Jürgen (2012): Die Ordnung des Raumes. Foucault, Bio-Macht, Kontrollgesellschaft und die Transformation des Raumes in der Moderne. Lich/Hessen.

  • 1. Dass Commons auch anders verwaltet werden könnten, legt etwa die Forschung von Elinor Ostrom nahe. Siehe: http://systempunkte.org/article/elinor-ostrom-gegen-die-tragik-der-allmende
  • 2. "Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat." (Foucault 2005a: 171)
  • 3. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich die studentische Beteiligung nicht herauf beschränkt, denn laut einem EMail der Universität des sogenannten "Newsticker für Studierende" gilt: "Der Bau des LSGs geht auf eine Initiative von Studierenden zurück und wird durch Studienbeiträge finanziert."
  • 4. Ich bin mir nicht sicher, ob das LSG wirklich gänzlich barrierefrei ist, so stelle ich mir etwa die Frage, wie eine blinde oder stark sehbeeinträchtige Person den Terminal bedienen soll. Geschrieben wird lediglich von Personen mit Mobilitätseinschränkungen