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Die schwarzen Ecken des Webs: Anarchismus.at

Mittlerweile sind es doch einige: die Webpräsenzen des Anarchismus. In einer Reihe von Interviews möchten wir euch mit den schwarzen Ecken des Webs vertraut machen. Diesmal stellen wir euch vor: Anarchismus.at

 

 

Warum hast du mit der Homepage anarchismus.at angefangen?

Die Seite selbst gibt es schon lange, nämlich seit Dezember 2002. Damit begonnen hatte ich, weil viele anarchistische Texte oder Internetseiten bereits nach wenigen Monaten oder Jahren wieder aus dem Netz verschwunden waren, weil die Seiten einfach nicht mehr betreut und gelöscht wurden. Deshalb wollte ich ein Textarchiv zusammenstellen, das langfristig erreichbar sein sollte. Die Seite selbst wurde dann eine Mischung aus von anderen Quellen gesammelten und von mir selbst digitalisierten Texten und Bildern.

Nachdem die Seite langsam in die Jahre kam, technisch veraltete und sich auch aus Zeitgründen lange nichts mehr tat, habe ich 2010 mit dem Umstieg auf ein moderneres System begonnen. Im November 2011 ging dann die neue Seite online und es sind massenhaft neue Texte, Bilder, PDF und MP3 dazugekommen. Ziel ist immer noch das selbe: ein umfangreiches Internetarchiv deutschsprachiger anarchistischer Texte.

Was sind die Schwerpunkte der Seite?

Inhaltlich liegen die Schwerpunkte im Textarchiv bei anarchistischen Texten, es sind aber auch rätekommunistische Sachen, Texte über die EZLN oder die Wobblies und (anarcha)feministische Inhalte dazugekommen. Persönlich möchte ich auch Schwerpunkte auf die Spanische Revolution 1936 und die dortigen (Schwierigkeiten der) Kollektivierungen sowie auf die Geschichte der FAUD und den Widerstand von AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen gegen Faschismus und Nationalsozialismus legen.

Komplett neu ist der regelmäßig aktualisierte Blogbereich. In dem finden sich viele Texte und News, die auch einen aktuellen Bezug zu Ereignissen heute aufweisen, etwa zu sozialen Kämpfen in Griechenland und Spanien. Hier schreibe ich selbst öfter über Themen, die mich besonders interessieren.

Für wen schreibst du, wer ist das "Zielpublikum" der Seite?

Das Textarchiv ist so gestaltet, dass es einen Überblick über viele verschiedene Themen bietet. Manches davon ist wohl nur für AnarchistInnen oder für KennerInnen der anarchistischen Bewegung interessant und einiges ist von rein historischem Interesse. Texte von Erich Mühsam zur "Frauenfrage" von 1914 etwa können wohl kaum mehr als interessanten Input für heutige Ideen und Debatten dienen...

Andererseits versuche ich mit der Seite auch, Interessierte am Anarchismus anzusprechen. Entsprechend gibt es zu jeder einzelnen Kategorie eine kurze Einleitung, quasi als Einführung ins Thema. Es geht mir also auch darum, andere für den Anarchismus und anarchistische Vorstellungen zu interessieren.

Angenommen, man würde dir eine Seite in der nächsten FAZ zur Verfügung stellen - was würdest du schreiben?

Ich würde über Beispiele von Kollektiven, horizontale Organisierungsmodelle und ähnliches schreiben. Also über praktisch greifbare anarchistische Vorstellungen und gegenseitige Hilfe. Anarchismus ist für mich kein Wolkenkuckucksheim einer in ferner Zukunft liegenden idealen Welt, in der dann alle Menschheitsprobleme gelöst sind und es keine Konflikte und Probleme mehr gibt. Ich verstehe den Anarchismus vielmehr als eine egalitäre soziale Praxis in allen Lebensbereichen - im Gegensatz zu hierarchischen Strukturen und den derzeit dominierenden Gesellschaftsvorstellungen.

Welche (Internet-)Lektüre schlägst du vor?

Selbst lese ich die Seiten der FAU und syndikalismus.tk zu Infos zu Arbeitskämpfen, die Gai Dao, Graswurzelrevolution und systempunkte zu Theorie und Debatte und Indymedia zu Szenenews. Empfehlen kann ich ansonsten noch occupiedlondon und contrainfo zu den aktuellen Entwicklungen in Griechenland - ja und dann nutze ich noch twitter. Darüber kann man geteilter Meinung sein, aber als Informationspool finde ich es sehr nützlich. Da kriege ich von Spanien über Chile bis Russland viele Informationen über Ereignisse, die bei sonstigen (Szene)Medien komplett an mir vorbeigehen würden...

Als Einstiegslektüre zum Anarchismus empfehle ich immer noch die Bücher von Horst Stowasser. Ansonsten sind Bücher mehr davon abhängig, was mich gerade interessiert - und vieles lese ich auch im Zuge der Digitalisierung von Texten für meine Homepage selbst.

Gab es in Sachen politischer Theorie in letzter Zeit etwas, was dich auf neue Gedanken gebracht oder zum Umdenken bewegt hat?

Nicht wirklich ;-). Zwar schaue ich gerne über den Tellerrand des Anarchismus (feministische Debatten, rätekommunistisches, Zapatismus, Occupy, Soziale Revolten weltweit...), finde anarchistische Vorstellungen aber weiterhin am Interessantesten für soziale Alternativen für das 21. Jahrhunderts. Klar beschäftige ich mich mit vielen aktuellen Bewegungen und sehe mir auch an, welche Organisationsformen, Inhalte und Gesellschaftsalternativen diese beinhalten. Und manches steht mir da als "sozialen Anarchisten" dann auch näher, als so manche individualistische oder nihilistische anarchistische Strömung.

Was braucht die oder fehlt deiner Meinung nach der anarchistischen Bewegung?

Im deutschsprachigen Raum fehlt ihr der "Ausbruch aus der Szene". Anarchismus ist hier hauptsächlich als sich abschottende  (Jugend)Szene wahrnehmbar und durch die kleine anarchosyndikalistische Bewegung. Selbst für Menschen mit Lohnarbeit oder mit Kindern ist es bereits schwierig, durch andere Lebensumstände nicht aus den (autonomen) Szenestrukturen zu purzeln - und sei es, weil die regelmäßige Teilnahme an Plena nicht mehr möglich ist. Entsprechend wenig ältere Menschen tummeln sich (zumindest in Wien) noch in der Szene. Anarchismus scheint hier inzwischen eher eine (studentische) Revoluzzerphase zu sein, die mensch dann ab 25 hinter sich lässt. Da blicke ich dann doch neidvoll auf andere Länder, in denen bei anarchistischen/anarchosyndikalistischen Demos Menschen jeden Alters und mit den verschiedensten gesellschaftlichen Hintergründen zu sehen sind...

Um ein Beispiel zu bringen: Hausbesetzungen sind eine Möglichkeit der Aktion gegen den Mietenwahnsinn. Die Kämpfe darum werden meistens jedoch nur innerhalb einer Szene geführt und mensch bleibt ja auch gerne unter sich mit den eigenen subkulturellen Codes und Vorstellungen. Meiner alleinerziehenden Arbeitskollegin kann ich als Alternative aber schwerlich eine Hausbesetzung vorschlagen, wenn es wiedermal Ärger mit dem Vermieter gibt. Vielleicht findet sie Besetzungen sogar gut, von ihrer Lebensrealität ist diese Möglichkeit jedoch meilenweit entfernt. Mietenwahnsinn oder Zwangsräumungen können aber auch mit Formen Gegenseitiger Hilfe breiter thematisiert werden - etwa in gemeinsamen Kämpfen mit "normalen MieterInnen" wie jetzt gerade in Berlin (Blockade gegen Zwangsräumung). Dieses "über die eigene Selbstbezogenheit der Szene hinaus" zu agieren finde ich einen wichtigen Schritt, wenn der Anarchismus im deutschsprachigen Raum (wieder) mehr werden soll, als reiner "Lebensweltanarchismus" einer abgeschottenen Subkultur.

Welche Möglichkeiten siehst du durch das Internet für die anarchistische Bewegung?

Das Internet bietet einerseits viele Möglichkeiten der Vernetzung - man kommt mit Menschen in Kontakt, mit denen man ansonsten wohl nie etwas zu tun hätte, sei es, weil sie einfach tausende Kilometer weit weg leben. Andererseits können damit auch sehr viele Menschen einfach erreicht werden. Früher waren die Möglichkeiten, Menschen mit politischen Inhalten zu erreichen, durch viele Faktoren eingeschränkt. Wurde ein Flugblatt geschrieben und verteilt, war damit die Zahl potentieller EmpfängerInnen deutlich reduziert - ein Text im Netz ist potentiell für Millionen Menschen erreichbar.

Dieses Potential des Internets und die Geschwindigkeit der Informationsverfügbarkeit hat auch soziale Bewegungen maßgeblich geprägt. Dabei fällt mir neben dem "arabischen Frühling" oder Occupy in jüngerer Zeit auch die Bewegung gegen die schwarz-blaue Regierung in Österreich im Jahr 2000 ein, als sich eine Protestbewegung hierzulande erstmals massiv dem Internet für die Mobilisierung und Durchführung von Demonstrationen bediente. Nicht zuletzt deshalb geben Staaten weltweit ja auch gerade Unsummen dafür aus, Kontrollmöglichkeiten über das Netz zu bekommen.

Wir danken für das Interview!